Welcher Nationalität und welchem Land fühlen sich Russlanddeutsche zugehörig? Passen solche Kategorien überhaupt, wenn es um die Frage nach Identität geht? Und warum sollten Russlanddeutsche raus aus ihrer „Opferrolle“? Irina Peter, in Kasachstan geboren und seit 26 Jahren in Deutschland, gibt Antworten.

„Woher kommst du?“ „Aus einer Kleinstadt im Norden Baden-Württembergs.“ „Komisch, du sprichst ja gar keinen Dialekt“. „Ja, meine Eltern haben immer Hochdeutsch mit uns gesprochen.“ „Aber Irina klingt irgendwie osteuropäisch, woher kommen denn deine Eltern?“ Und jetzt würde ich am liebsten lügen. Nicht weil mir meine Herkunft peinlich ist, nicht mehr. Aber ich möchte diesem Fremden nicht erklären, warum ich einen deutschen Pass habe, obwohl ich in Kasachstan geboren wurde. „Hätte ich nicht gedacht, du siehst ja gar nicht wie eine Kasachin aus“, würde dann kommen. „Wie rassistisch“, würde ich denken und trotzdem reflexhaft in eine Verteidigungsposition gehen: „Ich bin ja auch Deutsche, meine Familie stammt aus Ostpreußen.“ Weil er nicht verstehen würde, wie ich nach Zentralasien gelangen konnte, müsste ich weitere Fakten liefern, die meine Deutschstämmigkeit beweisen.

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Ich müsste erzählen, dass meine Großeltern 1936 aus einer deutschen Kolonie in der Ukraine deportiert wurden, viele meiner Verwandten unter Stalins Regime erschossen oder für Jahrzehnte weggesperrt wurden. Oder warum meine Eltern uns Kindern russisch klingende Namen gaben, obwohl sie von russisch Sprechenden als „deutsche Faschisten“ beschimpft wurden. Das ist keine Geschichte, die sich für einen Smalltalk eignet, denn sie zu erzählen tut mir weh. Außerdem befürchte ich, dass diese Person sie nur hören möchte, um mich dann schnell in eine Schublade zu stecken, auf der bereits „Russe“, „Ausländer“ oder „Wirtschaftsflüchtling“ steht.

Und daran stört mich weder „Russe“ noch „Ausländer“ oder „Wirtschaftsflüchtling“. Sondern allein die Schubladen, die da schon bereitstehen, um mich verschwinden zu lassen. Wohin passe ich aber, wenn ich mich weder russisch, kasachisch, deutsch noch russlanddeutsch fühle? Sondern eine Mischung aus Sprachen, Werten und Kulturen bin. Und wie mache ich dem Fremden klar, dass mir Herkunft und Nationalität eines Menschen grundsätzlich egal sind? Weil wir dann schnell dabei sind, in Gruppen zu denken, aus denen wir andersartige Menschen ausschließen.

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Und dann käme noch unausweichlich die Frage: „Wo ist denn nun deine Heimat?“ Da müsse ich doch als Russlanddeutsche eine Position haben. Ja, die habe ich auch: Ich bin gegen die Pflicht auf Heimat. Zumindest gegen die gängigen Formate, in die wir unser Heimatgefühl pressen sollen wie Land oder Sprache. Heimat muss nicht zwingend mit Herkunft gleichgesetzt sein. Ich fühle mich beispielsweise in Gegenwart von Menschen beheimatet, die nichts mit Kasachstan oder Deutschland zu tun haben. Oder finde in Musik oder Kunst Gefühle, die manche mit dem Begriff Heimat verbinden.

Ich würde gern lügen. Und dann sage ich doch die Wahrheit. Nicht weil ich mich rechtfertigen will, nicht mehr. Sondern weil ich das meinen Großeltern, Eltern und einer offenen Gesellschaft schulde. Die Geschichte der Russlanddeutschen ist kaum bekannt, weder in Deutschland noch in Kasachstan oder anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Und kaum bekannt ist auch, dass wir nicht alle Wolgadeutsche sind und nicht alle 1941 nach Sibirien deportiert wurden. Sondern jede russlanddeutsche Familie eine eigene Geschichte besitzt.

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Ich erzähle dem Fremden nur das, was meine Verwandten erlebt haben, ohne Begriffe wie „ethnische Abstammung“ oder „Schicksal“ zu benutzen. Denn weder möchte ich das Privileg meiner Deutschstämmigkeit betonen, für die meine Familie zwar deportiert wurde und zwei Jahrzehnte ohne Rechte lebte. Die es uns aber in Verbindung mit den erlittenen Kriegsfolgen im Rahmen des Bundesvertriebenengesetzes ermöglichte, 1992 nach Deutschland auszureisen. Noch möchte ich mich zur Gruppe der Russlanddeutschen stellen, die unablässig über das „Schicksal“ der Russlanddeutschen lamentieren und sich als Opfer sehen. Als Opfer des kommunistischen Regimes damals und heute als Opfer der Bundesdeutschen, die sie in Deutschland nicht als Deutsche akzeptieren.

Ich erkläre, dass ich viel Verständnis für diese Gefühle und Einstellungen meiner Landsleute habe. Nenne aber Argumente dafür, warum sie selbst etwas dafür tun sollten, damit ihre Geschichte als Teil der deutschen Geschichte Verständnis und Anerkennung findet. Schließlich kann jeder Russlanddeutsche dazu beitragen, Vorurteile abzubauen und Integration zu fördern.

Und dann begreift der Fremde vielleicht, dass es auch seine Geschichte sein könnte und es einfach nur Zufall ist, wo er geboren wurde und welche Nationalität er hat. Er kann seine Schubladen behalten. Die brauchen wir alle, um uns in der Welt zurechtzufinden. Aber vielleicht sind sie nach unserem Gespräch leichtgängiger geworden und lassen mehr Vielfalt beim Sortieren zu.

Irina Peter

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