Obwohl die Siedlungen in Almatys Randbezirken Schanyrak und Bakai schon seit Anfang der Neunziger bestehen, wurden sie kürzlich von der Stadtverwaltung für illegal erklärt und sollen zerstört werden. Private Investoren planen Großbauprojekte in diesem Gebiet. Am 14. Juli eskalierte die schwierige juristische und humanitäre Lage in Schanyrak. Die DAZ-Autoren Helmut Tiede und Christian Lindner zeichnen die Ereignisse dieses Tages nach.

In Kuralais Haus ist es sehr eng, aber angenehm kühl. Erst kürzlich wurde es mit Hilfe von Nachbarn wieder aufgebaut. Die Einrichtung wirkt provisorisch, die Wände kahl und unbehandelt. In die Fensterrahmen sind Plastikfolien gespannt und das kleine Haus hat noch keine richtige Tür. Auf etwa 30 Quadratmetern wohnt Kuralai hier mit ihrem Mann Wladimir und ihren sechs Kindern. Ihr altes Heim, welches sie Anfang der Neunziger in Schanyrak, einem Almatyer Randgebiet bauten, war von der Stadtverwaltung als eines von hundert anderen Häusern für illegal erklärt und am 14. Juli zerstört worden. Kuralai erzählt über die Ereignisse an diesem Morgen. „Dieser Freitag war für uns hier in Schanyrak ein mit Angst erwarteter Moment der Entscheidung über unsere weitere Existenz. Wir wussten, es geht um unsere Häuser und unsere Zukunft“, sagt sie.

Wenn Kuralai erzählt, werden die Ereignisse dieser Nacht wieder lebendig: Um vier Uhr morgens versammeln sich bereits etwa 800 Menschen auf der schmalen Straße, die durch diesen Stadtteil führt. Viele kommen auch aus anderen Stadtbezirken, sie zeigen Solidarität oder befürchten, daß bei ihnen Ähnliches passieren könnte. „Wir zündeten Tonnen und Reifen an, um die erwarteten Bulldozer aufzuhalten und stellten Frauen und Alte in die ersten Reihen. Damit wollten wir zeigen, daß wir kein gewaltbereiter Pöbel sind, der sich der Staatsmacht stellt, sondern normale Bewohner des Viertels, die keinen anderen Ausweg sehen“, erzählt Kuralai. „Ich stand mit in der ersten Reihe.“

Illegale Siedlungen

Schanyrak ist einer der jüngsten Stadtbezirke Almatys. Als Präsident Nursultan Nasarbajew nach der Perestroika kasachische Minderheiten aus den angrenzenden Staaten einlud, sollte ein neues Kasachstan für Kasachen entstehen. Die neuen Staatsbürger bekamen die Erlaubnis, Grundstücke zu erwerben und Häuser zu bauen. Manche Häuser gibt es schon seit damals und an einigen Stellen wird noch gebaut, aber erst kürzlich erfuhren die Menschen, daß sie ihre Grundstücke eigentlich illegal erworben haben. „Jemand hat ein Stück Land angeboten und ein anderer hat es gekauft, so lief das damals“, erinnert sich Jarschan, Bewohner von Schanyrak, „über offizielle Genehmigungen der Stadtverwaltung haben wir nicht nachgedacht.“ 3.000 Dollar hat er damals für sein Grundstück bezahlt. Nun sollen diese „unrechtmäßig errichteten Siedlungen“, wie sie die Behörden der Stadt nennen, für städtebauliche Maßnahmen des Großraums Almaty Platz machen. „Es wird gemunkelt, dass unter anderem ein großer Aqua-Park gebaut werden soll“, seufzt Jarschan. Die Bewohner sammelten Unterschriften von Abgeordneten in Astana, der Hauptstadt Kasachstans, und baten die Opposition sowie Nicht-Regierungs-Organisationen um Hilfe. Es wurden Erklärungen geschrieben und Anwälte gestellt, Legalisierungen versprochen und Dokumente verfasst, um die Leute, zumindest unter bestimmten Kriterien, dort leben zu lassen. Nichts hat geholfen, der Termin der Räumung war bereits festgelegt. An diesem Morgen stehen Jarschan, Kuralai und die anderen Bewohner auf der Straße, müde, gleichzeitig erregt und vor allem voller Angst. In Bakai, einem anderen Stadtbezirk, in dem illegal Grundstücke erworben wurden, waren schon etwa 160 Häuser geräumt und von Bulldozern zerstört worden.

Massive Ausschreitungen

„Wir wussten, dass hier das Gleiche passieren würde, wenn wir uns nicht wehren und wir wollten das um jeden Preis verhindern“, sagt Kuralai. Um etwa 4.30 Uhr kommt an diesem Morgen der erste gepanzerte Wagen der Polizei die Straße hinunter. Hundertschaften rücken an, um die Leute von ihren Häusern zu trennen und den Bulldozern Platz zu machen. Es werden Steine geworfen, die Polizei setzt Wasserwerfer und Gummigeschosse ein.
Während der Auseinandersetzungen werden drei Polizisten von ihren Einheiten getrennt und festgehalten, zwei lassen die Protestierenden kurze Zeit später wieder frei. Den dritten, einen jungen Mann namens Aset Beijsenow, übergießt man mit Benzin und droht, ihn anzuzünden, falls die Bulldozer nicht abziehen würden. „Sie hatten nicht wirklich vor, ihm zu schaden“, erklärt Kuralai, „aber es gab in diesem Moment keine andere Möglichkeit, die Zerstörungen zu verhindern“. Plötzlich fliegt ein Molotow-Cocktail und der 24-jährige Polizist gerät in Brand. Niemand weiß, wer den Brandsatz geworfen hat, man spricht von einem vermummten Mann aus der Menge. Der kasachische Poet Aron Atabek, welcher aus Solidarität für die Bevölkerung von Schanyrak mit auf der Straße steht, zieht sein Jackett aus und versucht, den Brennenden zu retten. Als die Hundertschaft den Polizisten erreicht, schlagen sie Atabek nieder und verletzen ihn schwer, denn sie glauben, er würde versuchen, ihren Kameraden zu töten. Aset Beijsenow stirbt im Krankenhaus an seinen schweren Verbrennungen. Atabek wird an diesem Tag verhaftet.

Weitere Räumungen geplant

Sei diesem Morgen ist in Schanyrak nichts mehr wie es war. Die lokalen und meist staatlichen Medien berichten von betrunkenen Horden junger Männer und massiven Angriffen auf die Sicherheitskräfte. Die Bewohner von Schanyrak leben in ständiger Angst vor dem nächsten Einsatz der Abrissbagger. „Im Moment werden wir in Ruhe gelassen“, sagt Wladimir, „aber niemand weiß, was demnächst passieren wird.“ „Wir hoffen, daß wir diese Krise gemeinschaftlich überstehen. Wir wissen ja sonst nicht, wo wir hin sollen“, fügt Kuralai mit traurigen Augen hinzu. Am 3. August gab es im Hotel Kasachstan eine Diskussionsrunde zu dieser Krise mit Vertretern von verschiedenen Parteien und Nicht-Regierungs-Organisationen. „Die Schuld für alles, was bisher passierte, liegt letztendlich bei den Behörden der Stadt“, so Andrej Grischin, Mitarbeiter beim Internationalen Büro für Menschenrechte Kasachstan, „es wäre nicht schwierig gewesen, die Situation zwei Jahre eher zu lösen, als dies alles begann, doch wie gewohnt wendet die Verwaltung Zwangsmaßnahmen an, und nun haben sie, was sie wollten.“ Für den 22. August ist von städtischer Seite eine weitere groß angelegte Räumung in Schanyrak geplant. Es bleibt abzuwarten, was passiert.

Von Helmut Tiede und Christian Lindner

11/08/06

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