Der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk, dessen Romane in 34 Sprachen übersetzt sind, wurde für sein Lebenswerk mit dem diesjährigen Friedenspreis des deutschen Buchhandels gewürdigt.

„Ach Deutschland, deine Literaturstudenten.” So übte die Schweizer „Neue Zürcher Zeitung“ Kritik aus, als sie feststellte, dass eine Schar von Interessierten sich vor der Frankfurter Paulskirche versammelte und mit dem Namen Orhan Pamuk nicht viel anfangen konnte.
Am 23. Oktober bekam der 53-jährige türkische Schriftsteller Pamuk zum Abschluss der diesjährigen Frankfurter Buchmesse den Friedenspreis des Börsenvereins des deutschen Buchenhandels, welcher mit 25.000 Euro dotiert ist. In seinem Roman spielt der leidenschaftliche Romancier auf den Ost-West-Kontrast seines Landes an, oder, wie Pamuk es selbst beschreibt, auf die „Kluft zwischen „Arm und Reich”. Er stellt Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem Orient und dem Okzident und die Koexistenz von Tradition und Moderne klar dar.

Pamuk als Glücksfall für die Literatur

Laudator Joachim Sartorius kommentierte Pamuks internationales literarisches Wirken: „Jeder Roman von Pamuk beschenkt uns mit einer akribischen, fast haushälterisch genauen Beschreibung seines Landes. Unsere Medien berichten über dieses Land. Zwei Millionen deutsche Touristen besuchen es jedes Jahr. Dennoch ist die Türkei uns fremd geblieben. Es ist ein unerhörter Glücksfall, dass die unendlich reiche Literatur von Orhan Pamuk der Welt sein Land erklärt. Die sonst darüber reden und berichten, verfolgen alle bestimmte Interessen. Die Politiker – Erdogan, Verheugen, Merkel oder Villepin –, die Militärs, die Historiker. Der Schriftsteller ist der einzige, der uns mit diesem Land vertraut macht. Wenn wir Dostojewski lesen, wissen wir vom Zarenreich, von der Zerrissenheit der russischen Seele zwischen Sehnsucht nach Europa und Abscheu vor Europa. Lesen wir Pamuk, genau und geduldig, verstehen und respektieren wir dieses komplizierte Land, die Türkei mit ihrer großen Geschichte und ihrer großen Kultur”. Für Orhan Pamuk ist der Roman nach seiner Auffassung das „Fundament europäischer Wesensart und Identität.” Pamuk selbst kann sich ein Europa ohne den Roman nicht vorstellen, weil er „die größte Erfindung der westlichen Welt” ist, wie es auch Osman, der Held seines Romans „Das neue Leben” (Yeni Hayat) begründet. Dabei hatte sich der renommierte Autor in seiner Jugendzeit der Malerei verschrieben und bricht sein Architekturstudium mit 19 Jahren ab. Fasziniert und zugleich betäubt von seiner Geburts- und Heimatstadt Istanbul wandert er sie Schritt für Schritt ab und malt sie. Für einen Orhan Pamuk, welcher in einem kemalistischen, modernen und gebildeten Elternhaus aufwuchs, das fest an die Europäisierung glaubte, war Europa nicht weit von der Türkei entfernt. Im Gegenteil, dafür reichte lediglich ein Blick auf die Bibliothek seiner Eltern. Pamuk, mit dem Blick des Malers, sieht auf den Bosporus und erkennt darin auf symbolträchtige Art die französische Seine. Eine verinnerlichte Brücke über Grenzen entsteht: ParIstanbul. „Das ist nicht Paris”, sagte seine Mutter oft, wenn der angehende junge Künstler von seinen Wanderungen zurückkam. „Das ist Istanbul. Auch wenn du der beste Maler der Welt würdest, niemand hier würde dich beachten.” Diese Worte ließ Pamuk am Ende einer seiner Wanderungen in den Straßen von Beyoglu mit der Chemie der nächtlichen Nachtzüge auf sich wirken. „Ich möchte nicht Künstler, ich will Schriftsteller sein.” Mit diesem Gedanken endet sein Buch „Istanbul: Erinnerungen und die Stadt”. Er gibt die Malerei auf und widmet sich dem Schreiben, dem Roman – unbeirrbar seit 30 Jahren.

Autor lehnte staatliche Auszeichnung ab

Viel Lob bekam Pamuk insbeson-dere für sein Werk „Schnee”. Wohl deswegen, weil Ka, eigentlich Kerim Alakusoglu, der Held des Romans, in Frankfurt lebt. Es verschlägt ihn nach Kars – nordöstlichster Punkt der kaukasischen Türkei. Dort, zugedeckt von Kar (türk. „Schnee”) und von allem abgeschottet, findet Ka zu sich selbst und schreibt Gedichte. 19 an der Zahl, die der Leser nie erfährt. Chaos herrscht in der Stadt, als eine Theatergruppe die Gunst der Stunde nutzt und einen politischen Putsch inszeniert. Der Ort wird zum Schauplatz der Begegnungen zwischen allen Menschen, die die türkische Gesellschaft zu bieten hat. Selbst der Fanatiker wirkt sympathisch.

Obwohl Pamuk sich als eher unpolitisch betrachtet, kommt er in der türkischen Gesellschaft nicht darum herum, aus seinem Elfenbeinturm herauszukommen. Pamuk möchte – wie jeder Intellektuelle auch – sich in seinem Land frei äußern und wenn nötig über Tabus sprechen können, ohne dass ihm dafür Exil oder Gefängnis droht. Daher sieht Pamuk sich genötigt, seinen Patriotismus unter Beweis stellen zu müssen.1999 lehnte er den Vorschlag der Regierung, ihn als „Staatskünstler” zu küren, ab, er kritisierte dabei die Politik zur Meinungsfreiheit und zu den Minderheitenrechte. Als erster Autor der islamischen Welt verurteilte Pamuk die Fatwa, die 1989 gegen Salman Rushdie ausgesprochen wurde und bekannte sich zu Jasar Kemal, als dieser 1995 angeklagt wurde. Ähnliches droht nun auch Pamuk. Wegen seiner Äußerung, „Man hat hier 30 000 Kurden umgebracht. Und eine Million Armenier“ in einem Interview mit dem „Zürcher Tagesanzeiger“, soll der Schriftsteller am 16. Dezember vor einem Istanbuler Gericht wegen der „Herabsetzung der türkischen Identität” angeklagt werden. Diese Begebenheit unterstreicht umso mehr die Worte des Autors. Deshalb ist der Roman nicht nur für das Glück und den Stolz der Völker, sondern auch für ihre Wut, ihre Empfindlichkeit und ihre Scham so ein fruchtbares Terrain.

Anklage gegen Deutschland?

Wegen dieser Empfindlichkeit, dieser Scham und dieser Wut wird noch immer Schriftstellern gezürnt, wird nach wie vor eine eklatante Intoleranz an den Tag gelegt, werden Romane verbrannt und Schriftsteller vor Gericht gezerrt. Politisch wurde es erst am Ende seiner auf Türkisch gehaltenen Rede, die er als Plädoyer für den EU-Beitritt der Türkei nutzte. Die italienische „Corriere Della Sera” hob folgende Schlagzeilen hervor: „Pamuk klagt Deutschland an. Der türkische Schriftsteller attackiert indirekt Merkels Partei.” Mit dem Wort „j’accuse” (Ich klage an) ergibt sich eine klare Anspielung auf Emile Zola und die Dreyfus-Affäre. Tatsächlich verpönte Pamuk in seiner Rede gewisse Kreise in Europa, die auf Kosten der Türkei und der Türken Wahlkampf betrieben, wie auch die türkischen Politiker, die gegenüber Europa auf Konfrontationskurs gehen. Pamuk: „In Europa eine Türkenfeindlichkeit zu schüren, führt leider dazu, dass sich in der Türkei ein europafeindlicher, dumpfer Nationalismus entwickelt. Wer an die Europäische Union glaubt, sollte einsehen, dass es hier um die Alternative Frieden oder Nationalismus geht. Es ist von daher ein fataler Fehler, das Friedensangebot, das die heutige Türkei Europa macht, abzuschlagen!” Mit der erfolgten Preisverleihung ist Orhan Pamuk somit nach Jasar Kemal (1997) der zweite Schriftsteller aus der Türkei, der mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde und ist zugleich „wohl der einzige Schriftsteller, der die Erweiterung Europas überzeugend aus dem Geist des Romans begründen kann.“ (Tagesspiegel)

11/11/05

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