Ein kleiner Teil Kasachstans liegt geografisch in Europa – dort befindet sich Uralsk, die westlichst gelegene Großstadt Kasachstans und zugleich eine der ältesten. Ein Spaziergang entlang der Hauptstraße ist eine Zeitreise durch 400 Jahre kasachische und russische Geschichte.

Ich stehe an der Grenze zwischen Europa und Asien und schlage um mich. Vor mir fließt träge der Ural entlang, doch die Mücken nerven. Der Ural, er bildet die Grenze zwischen Asien und Europa, und er verleiht der am westlichsten gelegenen Großstadt seinen Namen: Uralsk oder Oral auf Kasachisch. Uralsk ist die einzige größere Stadt Kasachstans, die vollständig in Europa liegt – Warschau ist von hier näher als Almaty. Und sie ist eine der ältesten Städte auf dem Gebiet Kasachstans – gegründet 1584 als Kosakensiedlung unter dem Namen Jaisk am Rande des russischen Zarenreiches.

Ausgangspunkt einer Revolte im Zarenreich

Wer eine Zeitreise durch vier Jahrhunderte kasachischer, aber auch russischer Geschichte machen will, startet am besten ganz im Süden von Uralsk nahe am Fluss. Hier sieht die Stadt noch aus wie ein Dorf mit den typischen Holzhäusern, wie man sie aus vielen Ländern Osteuropas kennt. Dazwischen ein paar goldene Zwiebeltürme: Die Erzengel-Michael-Kirche wurde 1751 eingeweiht und ist damit wohl eine der ältesten noch existierenden Kirchen Kasachstans.

Nur wenige Jahre nach ihrer Fertigstellung sollte der kleine Ort am Ural der Ausgangsort von einem der bekanntesten Aufstände gegen das russische Imperium werden. Zwischen den Jahren 1773 und 1775 versammelte hier Jemeljan Pugatschow mehrere Tausend Kosaken, Leibeigene, aber auch Angehörige von Minderheiten wie Tataren und Baschkiren um sich. Mit seinen Anhängern konnte er zeitweise mehrere Städte in der Süduralregion und an der Wolga erobern. Zarin Katharina II. konnte den Aufstand nur mit massiver Waffengewalt niederschlagen. In einem kleinen Museum in Uralsk ist heute ein Nachbau des Käfigs zu sehen, mit dem Pugatschow nach Moskau gebracht wurde, um dort hingerichtet zu werden.

Katharina II. gab dem Fluss und der Stadt ihren heutigen Namen, um alle Erinnerung an den Aufstand auszulöschen. Doch ganz vergessen wurde er nicht: 1833 reiste Puschkin nach Uralsk, um über Pugatschow zu recherchieren, woraus unter anderem der Roman „Die Hauptmannstochter“ entstand.

Damals hatte sich Uralsk zu einer kleinen, wohlhabenden Kaufmannsstadt entwickelt. Der Fisch aus dem Ural war eine Delikatesse, die sich auch in St. Petersburg großer Beliebtheit erfreute. Im Stadtzentrum stehen heute noch viele Gebäude aus dieser Zeit: kleine Backsteinhäuser mit Stuckfassaden, wie man sie aus vielen alten russischen Städten kennt.

Ort der kasachischen Nationalbewegung

Überhaupt wirkt Uralsk sehr russisch – doch auch andere Spuren sind zu finden: Wer in eine Seitenstraße abbiegt, sieht etwa ein Minarett. Es gehört zu einer von zwei Moscheen aus dem 19. Jahrhundert, die in Uralsk zu finden sind. „Es ist eine tatarische Moschee“, erläutert der junge Mann, der mich durch den Gebetsraum führt. Kurz darauf wickelt mich der Imam noch in ein Gespräch über deutsche Philosophen ein – sehr interessant, aber aufgrund (noch) überschaubarer Russischkenntnisse kann ich ihm wenig entgegnen.

Immerhin reicht mein Russisch aus, um die Tafeln im Lokalmuseum zu lesen – untergebracht in der ehemaligen russisch-kasachischen Schule, einem grünen Bau mit vielen kleinen Türmchen. Interessant ist vor allem der jüngere Teil zur Geschichte von Uralsk. Ende des 19. Jahrhunderts war die Stadt eines der Zentren der kasachischen Nationalbewegung. Einer ihrer Anführer war der Jurist Zhakhansha Dosmukhamedow, der mehrere Jahre in Uralsk lebte. In den Jahren 1918 bis 1919 war er Mitglied der Regierung der Alasch Orda – eines quasi autonomen kasachischen Staates, der schließlich 1920 von den Bolschewiki aufgelöst wurde. Dosmukhamedow selbst wurde 1938 bei Moskau erschossen.

Heimat einer kasachischen Nationalheldin

Die sowjetische Periode zeigt sich in Uralsk nicht nur an großen Wandmosaiken und an der in einem Park versteckten Lenin-Statue – ganz im Süden der Stadt steht auch ein großes Denkmal zur Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Es ist klassisch aufgebaut mit einem großen Obelisken, ewiger Flamme und kleiner Panzersammlung. Uralsk war – wie ganz Kasachstan – nie umkämpft, aber nach Wolgograd ist es von hier nicht weit. So befanden sich in der Stadt auch mehrere Hospitäler für verwundete Rotarmisten.

Doch auch Menschen aus Uralsk selbst kämpften gegen Nazideutschland: Die bekannteste von ihnen ist Manschuk Mametowa. 1922 in Almaty geboren, wuchs sie in Uralsk bei ihren Adoptiveltern auf. Nach der Invasion der Deutschen meldete sie sich freiwillig für die Rote Armee, wurde aber mehrmals abgewiesen. Schließlich wurde sie doch aufgenommen und als Maschinengewehrschützin ausgebildet. Im Oktober 1943 fiel sie bei Kämpfen in der russischen Region Pskow, als sie anderen Rotarmisten den Rückzug ermöglicht haben soll. Manschuk Mametowa ist die erste Kasachin, die als „Heldin der Sowjetunion“ geehrt wurde, und ausgerechnet am Jahrestag des 22. Juni 1941 das ihr gewidmete Museum zu besuchen, lässt einen doch ein wenig ehrfürchtig erschaudern.

Johann Stephanowitz

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