Trotz aller Fortschritte in Wissenschaft und Technik kehren wir in einigen Bereichen doch immer wieder zum ursprünglichen Wissen zurück, vorzugsweise in der Ethik. In der Heilkunst sollte man es besser lassen. Was uns moderne Sinnvermittler heute auf der Bühne vortanzen, haben damals schon die alten Philosophen gewusst und verkündet, in gar nicht so unverständlicher Form. Gewiss, die kleinen gelben Reclam-Hefte erinnern allzu ungern an die unliebsamen Schulzeiten. Aber wenn wir unsere Trotzphase, dass uns die bösen Lehrer die Lust auf die gute Literatur vergrätzt hätten, überwunden haben, können wir uns doch eigentlich und endlich wieder den guten Werken zuwenden.

So ein kleines Seneca-Heftchen über das glückliche Leben zum Beispiel passt in jede Gesäßtasche und zu jeder Gelegenheit. Weiß man mal nicht, ob man lachen oder weinen soll, wie man den Tag am besten nutzt und genießt, wie man die Wut auf seine Mitmenschen vertreibt oder zum Ausdruck bringt, schnell mal eben nachgeblättert und schon findet man eine Lösung. Oder fühlt sich zumindest von Seneca verstanden.

Bei Krankheiten helfen mir zwar nach wie vor die großmütterlichen Haus- und Hofheilmittel: Bei Ohrenschmerzen Zwiebelsäckchen aufs Ohr gelegt. Bei Husten Zwiebelsaft in den Rachen gekippt. Über Wunden Essig geschüttet – aber damit ist nur ein Bruchteil der Beschwerden abgedeckt, die einen plötzlich überfallen können.

Als echter Fan antiker Weisheiten habe ich mir jetzt auch für Heilmethoden ein entsprechendes kleines Reclam-Heftchen zugelegt. Schauen wir doch mal, was da empfohlen wird. Was macht man also bei Grimmdarmschmerz, was auch immer das ist?

Die erste Herausforderung wird darin bestehen, einen Schmerz dem Grimmdarm zuzuordnen. Aber mal sehen: „Binde das Herz einer Haubenlerche mit einer Schnur oder einem kleinen Gurt um den Bauch des Patienten, reibe seinen Bauch mit deren Blut ein und sag: Flieh, Grimmdarmschmerz, die Haubenlerche sucht, dich zu vertreiben! Die Lerche selbst soll er – der Patient – essen.“ Würg! Äh … ich denke, davon nehme ich Abstand und lege mir lieber ein Zwiebelsäckchen auf den Bauch, wenn es drückt. Vielleicht schauen wir noch mal bei etwas herkömmlicheren Leiden. Aha, Zahn- und Kopfschmerzen. Gegen den Mond gewandt sage man: „Neuer Mond, neue Zähne; faule Würmchen, verschwindet! Wie dich (Mond) weder Wolf noch Hund berühren können, so soll mich, so soll meinen Kopf kein Schmerz berühren können!“ Danach schreibe man seinen Namen auf ein Papyrusblatt und binde es sich an seinen Kopf. Alles klar! Nicht so blutrünstig wie die Grimmdarmschmerzbekämpfung, aber eindeutig zu aufwendig.

Vielleicht lässt sich das antike Wissen nicht auf alles anwenden. Beim Wetter bin ich auch mehr für die modernen Methode Regenschirm und Blitzableiter als den Wettergöttern Opfer darzubieten. Gut, ein letzter Versuch: Wenn eine Gräte im Hals stecken bleibt: Man solle mit der linken Hand den Scheitel und mit der rechten das Rückgrat berühren und neunmal folgendes sagen: „Fischer Lafana, geh hinaus und tu, was dir Jupiter befohlen hat!“ Ehrlich gesagt, mit einer Gräte im Hals würde ich am liebsten gar nichts sagen, schon gar nicht neun Mal, sondern mir den Finger in den Rachen stopfen, um entweder die Gräte rauszuzerren oder den Brechreiz zu betätigen. Ich denke, ich belasse die antiken Heilmethoden in der Antike und das Reclam-Heftchen im Regal. Und stecke mir stattdessen lieber ein Büchlein mit den Adressen und Telefonnummern von Notdiensten und Ärztepraxen ans Revers.

Julia Siebert

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