Auch Linguistikstudenten, die sonst nicht viel zu sagen haben, geben ab und an mit dem Satz des Philosophen Ludwig Wittgenstein an: „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.”

Was für die Muttersprache gilt, erlebt aber auch jeder, der sich einer Fremdsprache annimmt: Die Schüler, Studenten und Kursteilnehmer, die im Goethe-Institut in Almaty oder in den Sprachlernzentren in Kasachstan und Kirgisistan Deutsch lernen, begeben sich täglich wissentlich und freiwillig in eine sprachliche Grenzsituationen.

Wenn ich meine Kursteilnehmer im Sprachlernzentrum Astana näher kennen lernen möchte, stelle ich ihnen immer zuerst diese Frage: „Warum lernst du Deutsch?” Die meisten haben sich prophylaktisch eine vernünftige und rationale Erklärung zurechtgelegt. Sie belegen ihre Sprachentscheidung mit den Stichworten „EU” und „Export”. Sie illustrieren mit reichlich Zahlenmaterial zur Anzahl der Muttersprachler und den Lernern weltweit, daß sie sich kluge Gedanken gemacht haben, bevor sie zu uns gekommen sind. Aber lernt man Deutsch nur aus rationalen Gründen?

Über unsere irrationalen, unbewußten und sehr persönlichen Gründe, eine Sprache zu lernen, sprechen wir nicht offen. Es sind nicht selten Gründe, für die wir glauben, uns ein bisschen schämen zu müssen. Als ich elf Jahre alt war, sollte ich mir nach Englisch eine zweite Fremdsprache aussuchen. Mein Kleinstadtgymnasium bot Latein, Französisch und Russisch. Französisch lernten die zickigen Mädchen und die Snobs. Gegen Latein sprach: Anzahl der Menschen, mit denen ich mich unterhalten kann – null. Russisch lernte ich aus Verlegenheit, und später, als ich mit meiner aus Kasachstan stammenden Klavierlehrerin die „Russische Klavierschule” durchspielte, aus Sentimentalität.

Sentimentalität ist nicht der schlechteste Grund, eine Fremdsprache zu lernen. Es ist das unerklärlich-unbewußte Hingezogensein zu einer Sprache und Kultur, die unser Herz berührt und uns in etwas verlieben läßt, das wir noch nicht oder noch nicht gut kennen. Wir haben ein Bild von einer Sprache, und sie ist Teil dessen, wie wir selbst gern sein würden. Meine leidenschaftliche Freundin Johanna spricht leidenschaftliches Französisch, die kühle blonde Jenny Schwedisch, und Aigul, meine Freundin hier in Kasachstan, hat auf ihrer imaginären Sprachlernliste nach Englisch und Deutsch, das sie perfekt beherrscht, noch Japanisch und Italienisch stehen – und passt somit in überhaupt kein Sprachenklischee. Wie lernt Aigul Japanisch? Langsam! Im Japanischen ist man mehr als zwei Jahre lang Anfänger. Wie lernte ich Latein? Verzweifelt! Wer die Prüfung nicht bestand, wurde rücksichtslos aus den Geisteswissenschaften exmatrikuliert. Wie und mit wem lernten wir Englisch? Mit Peter, Mary und Dave aus dem Englischschulbuch. Diese britischen Schüler, von Buch zu Buch in unserem Alter, waren unglaublich engagiert, fleißig und sportlich. Sie sammelten Briefmarken, waren gute Schüler und gingen nachmittags zum Gitarrenunterricht oder in den Hockeyclub. Kurz und gut drei Lehrbuchkinder, die einem schnell unglaublich auf den Keks gehen. Die Helden in meinem Polnischlehrbuch sind Professor Jan Gawlik aus Warschau und scheinbar sein ganzer Stab an wissenschaftlichen Mitarbeitern, deren akademische Titel man immer fleißig in die verschiedenen Kasus setzen muß, um mit ihnen oder über sie zu sprechen: Alle studieren sehr ehrgeizig, sind Studenten oder Doktoranden, interessieren sich für klassische Musik und kennen alle Filme von Andrzej Wajda. Diese Lehrbuchhelden aber sind nichts zu dem Protagonisten im Kinderdeutschbuch „Deutsch mobil” – das ist ein Frosch.

Neben der Zuneigung für Frösche gibt es noch eine Reihe anderer Gefühlsgründe, sich für Deutsch zu entscheiden – ich verrate Ihnen aus der Sicht der Muttersprachlerin, warum es keine schönere Fremdsprache gibt, die sie lernen sollten: Was wäre die Liebe und die Sehnsucht ohne die deutschen Konjunktive? Was täten Sie, wenn Sie ein Vöglein wären – flögen Sie zu Ihrer Liebsten? Wenn sie ein Gefühl haben, das sich mit den vorhandenen Worten nicht beschreiben lässt, dann komponieren Sie sich aus vielen anderen deutschen Wörtern einfach ein neues – Sommerabschiedsweh, oder Feiertagsglückseligkeit. Und die deutsche Sprache ist präzise, wenn auch manchmal nicht so präzise wie andere Sprachen. In den Eskimosprachen soll es 400 Wörter für „Schnee” geben, und das Jiddische soll 400 Wörter für „Dummkopf” kennen. In vielen Sprachen „Dummkopf” sagen können? Auch kein schlechter Grund.

Maria Reinhardt

09/05/08

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