In Astana wird der ungarische Regierungschef wie ein Bruder empfangen. Neben einer ideellen Verbundenheit geht es aber auch um konkrete Projekte im Wirtschafts- und Bildungsbereich.

In der Europäischen Union gilt Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán vielen als Paria. Wegen der abweichenden Haltung seiner Regierung zu Migration, Waffenlieferungen an die Ukraine und Russland-Sanktionen, aber auch Kritik an der rechtsstaatlichen Lage in Ungarn ist das Verhältnis zwischen Budapest und etlichen westeuropäischen Hauptstädten äußerst kühl.

Über einen warmen Empfang durfte sich Orbán dagegen freuen, als er am vergangenen Donnerstag in Kasachstans Hauptstadt Astana eintraf. Tatsächlich haben der ungarische Gast und sein Gastgeber, Kasachstans Präsident Kassym-Schomart Tokajew, einige politische Gemeinsamkeiten – v. a. in der außenpolitischen Ausrichtung ihrer Länder. So wie der Multivektoralismus bei Kasachstan zur DNA gehört – mit guten Beziehungen zu allen Schlüsselakteuren in der Nachbarschaft und darüber hinaus –, machte auch Orbán bereits vor mehr als einem Jahrzehnt klar, dass Ungarn nicht nur nach Brüssel und Washington schaut, sondern auch nach Ankara, Moskau und Peking.

Das dürfte nicht zuletzt auch dem Herkunftsnarrativ geschuldet sein, dem sich Ungarn unter Orbáns nationalkonservativer Regierung verschrieben hat. So sehen sich viele Ungarn als Nachkommen zentralasiatischer Reitervölker, die einst nach Westen vordrangen und sich so im Zuge eines Sonderweges ihren Platz inmitten der europäischen Völkerfamilie sicherten.

Mehrere Großprojekte vorgesehen

Kasachstans Tokajew gefällt die Vorstellung eines Brudervolkes inmitten der Europäischen Union offenbar gut. „In Kasachstan kennt und ehrt man Sie, weil Sie von Herkunft Kiptschake sind. Man kann sagen, dass Sie in die Heimat Ihrer Vorfahren gekommen sind“, empfing er Orbán am Donnerstag warmherzig. Der entgegnete, es sei „immer wieder schön, nach Hause zu kommen“. Die Ungarn reisten immer gern nach Kasachstan, „weil uns tausendjährige gemeinsame Wurzeln verbinden“.

Nach den Gesprächen im engeren und erweiterten Format traten beide Staatsmänner schließlich vor die Kameras und verkündeten die konkreten Ergebnisse ihrer Gespräche. Vor allem in den Bereichen Handel und Investitionen soll demnach die Zusammenarbeit ausgeweitet werden. Kasachstan will 95 verschiedene Waren im Wert von rund 700 Millionen US-Dollar nach Ungarn ausführen, erklärte Tokajew vor Pressevertretern. Vor allem in den Bereichen Metallurgie, Petrochemie, Maschinenbau und Landwirtschaft gebe es entsprechendes Potential.

Zudem ging Tokajew auf Abkommen über die Realisierung einer Reihe von gemeinsamen Großprojekten ein. Bis Ende des Jahres wird demnach das große Gaskondensatfeld Roschkowskoje in Westkasachstan in Betrieb genommen, an dem sich das ungarische Öl- und Gasunternehmen MOL mit 192 Millionen US-Dollar beteiligen wird. Darüber hinaus plant das ungarische Unternehmen Globalia den Bau von Solarkraftwerken in mehreren Regionen des Landes. Die Projektkosten belaufen sich auf 150 Millionen US-Dollar.

Ungarn will mehr Öl aus Russland und Kasachstan

Gesonderte Aufmerksamkeit widmete Kasachstans Staatschef den kulturell-gesellschaftlichen Beziehungen beider Länder. Dank der ungarischen Regierung hätten in den vergangenen zehn Jahren viele Studenten aus Kasachstan mithilfe von Ausbildungsstipendien an ungarischen Hochschulen studiert. „Eben erst wurde ein Memorandum über die Fortsetzung dieses Programms unterzeichnet, das unsere Bildungsbeziehungen weiter vertiefen wird“, so Tokajew im Beisein Orbáns. Zudem kündigte er an, dass anlässlich des 200-jährigen Geburtstagsjubiläums von Sándor Petőfi in Kürze eine Straße in Astana nach dem ungarischen Nationaldichter benannt werden soll.

Orbán für seinen Teil hob ebenfalls den Ausbau der Handelsbeziehungen mit Kasachstan als Ziel seines Landes hervor. „Wir freuen uns, dass sich neben der politischen Freundschaft auch die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen unseren Ländern verstärken“, so der ungarische Regierungschef. Vor allem das Volumen von Ölimporten aus Russland und Kasachstan solle gesteigert werden. Dass hier ein gemeinsamer Fahrplan erarbeitet wurde, sei „ein wichtiger Schritt für die Sicherheit unseres Landes“.

It’s Turktime

Als echter Kiptschake durfte Orbán auch auf dem Jubiläumstreffen der Organisation der Turkstaaten nicht fehlen. Ungarn hat dort – ebenso wie Turkmenistan – einen Beobachterstatus inne. Kasachstan, Kirgisistan, Usbekistan, Aserbaidschan und die Türkei sind Vollmitglieder. Kasachstan hat den Vorsitz eben von Usbekistan übernommen, so dass Tokajew das zehnte Gipfeltreffen der Länder als Gastgeber und Vorsitzender eröffnete. Als Motto der kasachischen Präsidentschaft stellte er das Schlagwort „TURKTIME!“ („Turk-Epoche“) vor, wobei jeder Buchstabe für ein gemeinsam zu erreichendes Ziel stehe – von Traditionen (T) über Reformen (R) bis hin zu Mediation (M) und Energie (E).

Im Rahmen seiner Präsidentschaft will Tokajew den ideellen Unterbau der internationalen Organisation stärken und die Einigkeit der Mitgliedstaaten festigen. Einen wichtigen Beitrag hierzu solle das Dokument „Perspektiven der Turk-Welt für 2040“ leisten, das die Länder gemeinsam verabschiedeten. Als oberste Priorität formulierte Kasachstans Präsident die Popularisierung der Organisation, vor allem bei Kindern und Jugendlichen. Das Bewusstsein für die gemeinsame Geschichte solle dabei auch unter Einsatz neuer Medien und der sozialen Netzwerke gestärkt werden. Zudem forderte er dazu auf, die Vernetzung der Länder durch einen Abbau von Handelshemmnissen und eine Harmonisierung von Vorschriften voranzubringen. Als dritte Priorität nannte Tokajew eine Reform der Strukturen der Organisation.

Tokajew trifft Erdoğan und Berdimuhamedow

Die Anwesenheit ranghoher Staatsvertreter im Zuge des Gipfels nutzte Kasachstans Präsident für bilaterale Treffen mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und Turkmenistans Ex-Präsident Gurbanguly Berdimuhamedow. Der ist zwar zumindest auf dem Papier nicht mehr die Nummer eins in dem abgeschotteten zentralasiatischen Land, seit er im vorigen Jahr das Amt des Staatsoberhauptes an seinen Sohn Serdar übertragen hat. Als Vorsitzender des Oberhauses, das als mächtiges eigenständiges Organ aus dem Parlament ausgegliedert wurde, und „Nationaler Führer“ hat er diese Rolle aber de facto immer noch inne und vertritt Turkmenistan regelmäßig bei Treffen auf der höchsten Ebene. Im September etwa nahm er neben den anderen Präsidenten am Gipfel der zentralasiatischen Länder mit Deutschland in Berlin teil.

Die größte Wertschätzung für einen Gast aus dem Ausland wurde vorige Woche indes Ungarns Ministerpräsident Orbán zuteil: Er erhielt im Rahmen seines Staatsbesuchs von Gastgeber Tokajew den „Dostyk“-Orden erster Klasse überreicht. Hintergrund: Orbáns Verdienste bei der Vertiefung und Erweiterung der Beziehungen beider Länder. „Dies ist ein Symbol für tiefen Respekt und Dankbarkeit, die Einheit zweier befreundeter Völker – Kasachstan und Ungarn – sowie unser Engagement für die Stärkung der Beziehungen, die auf Vertrauen und gegenseitigem Respekt basieren“, kommentierte Tokajew die Preisverleihung.

Christoph Strauch

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