Ich lebe im Osten, in Almaty, viele Tausend Kilometer vom Wohnort vieler DAZ-Leser entfernt. Also bin ich sozusagen ein „Ossi“, ein Mensch mit zwei Beinen, zwei Händen und einem Kopf. Ich bin auch kein Monster oder Menschenfresser. Und in meinem Kopf ist dasselbe wie bei den „Wessis“: Ich liebe meine Familie, Verwandten und Freunde, auch die Natur, den Sommer, Fußball, „Bayern München“, das Angeln und vieles mehr. Mir liegen alte Ausgaben des „Spiegels“ der Jahrgänge 2000 bis 2003 vor, und ab und zu lese ich darin. Die Artikel von damals schätze ich als journalistische Qualitätsarbeit.

Ich liebe das Leben – so wie jeder Mensch hier im Osten und so wie jeder Mensch im Westen. Manchmal habe ich Nostalgiegefühle. Nicht nach meiner Kindheit oder Jugend. Diese Zeiten sind endgültig vorbei. Die sind in meinem Kopf oder Herzen als schöne Erinnerungen geblieben. Als Nostalgie empfinde ich die verpasste Möglichkeit, Gutes zu tun. Die deutsche Sprache ist für mich eine erst später erworbene Sprache. Ich denke auf Russisch und drücke diese Gedanken schriftlich auf Deutsch aus. Ich hoffe, dass man das, was ich hier schreibe, im „Westen“ und auch sonst wo richtig verstehen wird.

Leo Tolstois bestes Werk heißt „Krieg und Frieden“. Nur der Mensch, der an einem realen Krieg teilgenommen hat, versteht diese Begriffe richtig. Ich habe mal Kommentare zum Thema des zweiten Weltkriegs gelesen. Mein Großvater war in diesem Krieg an der Ostfront, und er sagte uns immer: „Nie wieder ein Krieg!». Das betonen auch stets deutsche Forumteilnehmer. Auch unsere alten Kriegsveteranen sagen, dass der Krieg das Grausamste sei. Krieg und Frieden sind Antagonismen, West und Ost sind aber keine Antagonismen. Beides sind Teile einer gemeinsamen Welt, nämlich unserer Erde. Wir, ob im „Osten“ oder im „Westen“, sind keine Feinde. Wir sind Menschen, die nur einmal auf diese Erde kommen und jeweils etwa 60, 70 oder 80 Jahre leben.

Deutschland ist ein gutes und schönes Land. Sehr vieles gefällt mir dort, insbesondere die Menschen. Das ist kein leeres Geschwätz. Ich als Dolmetscher habe viele Menschen aus diesem Land kennengelernt. Ich als „Ossi“ habe keine Absicht, Deutschland anzugreifen, es zu erobern – auch jedes andere Land in Europa nicht. Mein Aufenthalt auf unserer Erde kann etwa 70 Jahre dauern. Meine drei Kinder sind schon erwachsen. Ich möchte meine sechs Enkel erziehen helfen und wünsche, dass sie im Frieden weiter glücklich leben und vielleicht einmal als Tourist nach Deutschland kommen. Denn wir alle sind gleiche Menschen mit ähnlichen Lebenserwartungen, Freuden und Träumen. Die ermordeten Zivilisten im Donbass oder im Nahen Osten haben ebenso von einem glücklichen und friedlichen Leben geträumt. Es macht den Anschein, als ob wir heute nicht mehr selbst entscheiden, ob unsere Träume Wirklichkeit werden. Schon morgen kann ein Alptraum auf uns zukommen und uns vernichten. Wer dafür tatsächlich die Entscheidungsgewalt hat, das kann kaum jemand wirklich analysieren. Aber wir sind Milliarden von Bürgern und sollten uns nicht gegenseitig zu Zielscheiben für derartige Ansinnen machen.

Vieles dreht sich heute um die Ukraine. Das ist ein sehr schönes Land. Ich war dort vor einigen Jahren. Auch geographisch gesehen ist das Land eine gesegnete Region. Es kann uns – die im Westen und die im Osten – verbinden und unsere Völkerfreundschaft vertiefen. Dies könnte anstatt der Errichtung von neuen Mauern, die viele Völker trennen, zur Entwicklung der Ukraine beitragen.

Sind meine Gedanken falsch? Meine Nostalgiegefühle betreffen lediglich eine kurze Zeitperiode, die Gorbatschow-Zeit. Der Mann wollte eine friedliche Welt aufbauen, ohne Antagonismen, Nato, Warschauer Vertrag, Berliner Mauer und Krieg. Diese zwei bis drei Jahre waren eine schöne Zeit. Aber Abel hatte damals leider gegen Kain verloren.

Polat Karimow ist ehemaliger Redakteur der DAZ und lebt in Almaty. Er arbeitete von 1988 bis 1992 in der Redaktion.

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